Rohrzucker schmilzt bei 160 Grad Celsius, erstarrt beim Abkühlen zu einer amorphen Masse, ist in diesem Zustand hygroskopisch und wird beim Liegen kristallinisch. Bei anhaltendem Erhitzen auf 160 Grad verwandelt sich Rohrzucker in Frucht- oder Traubenzucker, über 190 Grad jedoch in braunen bitteren Karamell. In den Sommermonaten können die Temperaturen in der zentralen ⇾ Süßen Wüste bis zu über zweihundert Grad erreichen, besonders wenn mangelnde Luftbewegung den Temperaturanstieg begünstigt. In Landschaften von pfannenförmiger Struktur [flache Täler, ausgetrocknete Seen] kann es dann zu den sogenannten Zuckerschmelzen kommen, wobei sich quadratkilometergroße Teile der Wüsten zeitweise karamellisieren, um später bei sinkenden Temperaturen wieder zu erstarren. Gefährlich sind diese Zuckerschmelzen nicht nur für Sand-Aale und Klapperskorpione, die sich bevorzugt in solchen Gegenden aufhalten, sondern auch für den arglosen Wanderer, der sich im Zentrum einer Zuckerverflüssigung befindet. Ihn umfängt der heiße Zucker ohne Warnung zunächst bei den Füßen, dann sinkt das hilflose Opfer immer tiefer in die schmelzenden Kohlehydrate, bis er ganz darin eingeschlossen ist, wie ein prähistorisches Insekt in Bernstein. Oder, was vielleicht sogar noch schlimmer sein mag: Die Masse erkaltet, bevor sie ihn ganz verschlingt, und er muss bei lebendigem Leibe, halb eingeschlossen in erstarrtem Zucker, elendiglich verdursten.
Walter Moers, Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung, Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär